Ist “woke” tot?

In der ZEIT las ich vor kurzem, dass „woke“ gestorben sei. Den Autor, Ijoma Mangold, schien das ein wenig zu freuen, etwas hämisch zelebrierte er die Auswüchse von „woke“, die viele längst nerven: Eine universitäre Elite hätte den „phantasmatischen Begriff der Mikroaggression so groß gemacht, dass sich jeder jederzeit beleidigt und retraumatisiert fühlen durfte, solange es ihm nur gelang, sich als Teil einer marginalisierten Minderheit auszugeben“.

 

Doch nun sei alles anders: Spätestens seit der „Entlarvung“ von Judith Butler und der Postcolonial Studies als Brutstätten linken Antisemitismus würde man „woke“ hinterfragen. Als Beispiel nannte er, dass mittlerweile sogar die „woken“ ESG-Kriterien (Environment, Social and Governance) der Finanzwelt als kontrovers gelten würden.

 

Mittlerweile? ESG-Kriterien werden schon seit Jahren hinterfragt, weil sie nicht sozial genug und kaum wirklich messbar sind. Das ist genauso wenig ein Zeichen, dass „woke“ tot ist, wie die auch schon betagte Kritik an Judith Butler. Die antisemitische Gefahr, die durch manch marxistische Lehren oder die Debatte verkürzende TikTok-Reels ausgeht, ist uns heute präsenter, ja. Aber die Masse an jungen Menschen, die spätestens seit Gretas Posts nun zu differenzierteren Debatten bewegt werden müssen, ist deshalb nicht kleiner. Im Gegenteil, sie wächst täglich.

 

Dass „woke“ am Ende ist, nur weil die Headline sich griffig liest, ist absurd. Was eher stimmt, ist das selbst einige „woke“ Menschen merken, dass „woke“ zu schnell ging. Absolut richtig, dass Frauen, weiblich gelesene Menschen und Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund mehr Mitsprache und weniger Diskriminierung erhalten. Durch Forderungen, die eher von Eliten ausgingen und für die normale Bevölkerung teilweise unverständlich waren (wie Gendersprache, individualisierte Pronomen oder englischsprachige Ausdrücke, die wie „farbige“ Menschen klingen aber nicht so übersetzt werden dürfen) hat sich jedoch ein Graben in Deutschland vertieft, der oft ein Grund für lustige Witze über dumpfbackige Gendergegner war, aber jetzt selbst links-grünen Aktiven Angst macht. AfD auf 30%, die Demokratie ernsthaft in Gefahr. Damit hatte niemand gerechnet.

 

„Wokeness“ ist an dieser Entwicklung nicht schuld. Aber alle, die Medien verfolgen oder auch mal mit Menschen sprechen, die kurz davor sind, AfD zu wählen, wissen, dass es der Tropfen zu viel ist, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Das heißt jedoch noch lange nicht, dass „woke“ aus der Mode gerät, auch wenn viele männliche CEOs sich wünschen, dass die nervige Jugend mit ihren Forderungen nach gegenderter Ansprache, Work-Life-Balance, Awareness-Teams und teuren, schallisolierten Bürokabinen für ihre Hochsensibilität endlich wieder „normal“ werden und ihre Arbeit schneller erledigen. Das wird nicht passieren. Ebenso wenig, wie „Minderheiten“ wie Frauen oder nicht-weiße Menschen freiwillig wieder hinterm Herd verschwinden oder „remigrieren“.

 

Was wir deshalb dringend brauchen, bevor dieses Land komplett auseinanderfällt, ist bessere Mediation. Bessere Bildungsmaterialien, die übersetzen, in dem sie die Gegenmeinungen einbeziehen und ernst nehmen. Wir brauchen Kampagnen für Gendersprache, die sich auch mal über den Glottisschlag lustig machen und erklären, warum diese Kunstsprache noch nicht ausgereift ist. Wir brauchen breit sichtbare Kampagnen für Missstände, die für manche Menschen gerade gravierender erscheinen als der Mangel an Unisex-Toiletten in öffentlichen Gebäuden. Wir brauchen Demos für Kitaplätze, die so präsent sind wie die für LGBTQIA+. Das alles heißt nicht, dass es das andere nicht auch geben kann und soll. Wir sind nur aus der Balance geraten.

 

„woke“ ist also nicht tot, es braucht nur dringend eine schnieke Begleitung. Eine, die jene anspricht, die sich in der Strenge von „woke“ nicht wiederfinden. Wie wäre es mit wokidoki? Die wokidoki gGmbH geht in wenigen Wochen an den Start. Gerade rechtzeitig zum Superwahljahr, um zu zeigen, dass wir „Modernen“ zu Diskussionen einladen, empathisch zuhören und Genderthemen auch so erklären können, dass sich ältere Menschen nicht aufs Abstellgleis gestellt fühlen. Ob es uns gefällt oder nicht: Was 2024 ungut ist, ist mit gereckter Faust durch die Wand zu preschen. Das wird die AfD nicht aufhalten, und wenn wir die nicht aufhalten, ist woke wirklich tot. Und zwar nicht, weil es sich diskreditiert hat, sondern weil Meinungsfreiheit passé sein wird.

 

Liebe Grüße!

Stevie Schmiedel

 

Foto: Thanks Danny Burke / Unsplash