Was können Protestbewegungen besser machen?

Am Weltfrauentag scheint es frech, den hart arbeitenden Protestbewegungen Verbesserungsvorschläge zu machen. Aber aktuell mehren sich die Publikationen, die den progressiven Bewegungen in Sachen „Wandel voranbringen“ ein „mangelhaft“ attestieren. Es lohnt sich deshalb für alle Aktiven, da einmal reinzulesen, egal, ob sie im Klimaschutz, Anti-Rassismus oder Feminismus arbeiten.

 

Zum Weltfrauentag ist also die Frage: Kommen wir in den Frauenrechten voran? Häusliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, Femizide, Gewalt gegen trans und queere Personen sind deutlich angestiegen. Wir haben weiterhin eine Rentenschere von 30%, uns fehlen deutschlandweit 400.000 Kitaplätze, wir haben noch weniger Frauen im Bundestag (32,4%) als in der letzten Legislaturperiode. Obwohl es um mich herum immer weniger sexistische Witze, Sexismus in der Werbung und mehr Mädchen gibt, die sich als Feministin bezeichnen, hatten wir noch nie so viel Essstörungen unter ihnen. Wir haben nur noch die Hälfte an Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, als vor 20 Jahren. Es gibt nur eine einzige Verbesserung: Wir haben mittlerweile 30% Frauen in den Führungspositionen. Nein, zwei! So großartig feministische Filme wie „Wunderschöner“ hätte es vor fünf Jahren noch nicht gegeben.

 

Gehen wir rückwärts?

Trotzdem scheinen wir rückwärts zu gehen. Auch wenn egagierte Politikerinnen jetzt das Gewalthilfegesetz durch den Bundesrat gebracht haben, welches jeder Frau Schutz vor häuslicher Gewalt verspricht, ist die Frage, wo das Geld für neue Frauenhäuser herkommen soll: Die Weltlage ist nach rechts eskaliert, mit Autokraten wie Trump und Putin braucht Deutschland jetzt dringend Geld für Selbstverteidigung. Und obwohl es gut ist, dass mit dem Gewalthilfegesetz ein Teil der Istanbul-Konvention, die Deutschland 2011 unterzeichnet hat, endlich umgesetzt wurde, ist es ebenso dramatisch, dass die Türkei selbst die Konvention 2021 verlassen hat. Aylin Nazliaka, türkische Sozialdemokratin und Politikerin der Partei CHP, erklärte diese Woche auf einem Panel der Friedrich-Ebert-Stiftung in Hamburg, dass sich viele türkische junge Frauen nicht mit den urbanen, gut gebildeten Mehrverdienerinnen, die oft eine akademisierte Sprache sprechen, identifizieren können und sich deshalb eher Erdogan zuwenden. Ähnlich erklärte es dort die französiche Journalistin Cécille Calla: Marine Le Pen hole Frauen massenweise mit ihrem rechten Feminismus ab, der sich auf den Schutz vor sexualisierter Gewalt beschränkt. 50% der Französinnen sehen die rechtsextreme Le Pen als Feministin. Was also, machen progressiv feministische Organisationen in Europa falsch – oder könnten sie sehr viel besser machen?

 

Bewusstsein ist das eine, Wandel das andere

Die internationale Organisation „More in Common“ untersucht gemeinschaftlichen Zusammenhalt. Eine neue Studie der Organisation bemängelt, dass progressive Bewegungen den Rechtsruck nicht abwenden können und zu wenig effektiv sind. Auch Rutger Bregman, Autor des aktuellen Bestsellers „Moralische Ambition“, attestiert Protestbewegungen einen mangelnden Hebel für Veränderung. Und das, obwohl sie sich von 2006 bis 2020 verdreifacht haben!

Beide sehen ähnliche Grundprobleme, wobei sich Bregman u.a. auf die Soziologin Zeynep Tufekci bezieht, die More in Common-Studie auf 1000 Interviews mit progressiven Aktivisten und mehrere Dutzend Interviews mit Leitungen von NGOs. Und auch an der University of California unter der Leitung des Soziologen Prof. David S. Meyer wird nach dem Wahlsieg von Donald Trump gerade geforscht, was Protestbewegungen besser machen können.

 

Kleinere Schritte, größere Kompromisse

Alle drei bemängeln, dass, wie More in Common es ausdrückt, größere Allianzen aufgrund von „purity tests“ einzelner Organisationen nicht zustande kommen. Die sehr eng gesteckten, linkspolitischen Ziele vieler progressiver Aktive in einer Bewegung, der Druck, der somit auf die Geschäftsführung von NGOs ausgeübt wird, verhindert ein Eintreten für niedriger gesteckte Ziele. In der Studie – die ich sehr empfehle, sich anzuschauen – wird den Leitungen dieser NGOs deshalb Mut gemacht, ihre Teams diverser aufzustellen, um dieser dogmatischen Falle zu entgehen. Denn so hehr der Wunsch ist, alle marginalisierten Gruppen gleichzeitig mitzunehmen: „Wir müssen auch Entscheidungen treffen und für jedes Ergebnis kämpfen.“, sagt Bregman in „Moralische Ambition“. Fast jeder progressiver Wandel, angefangen mit der Abschaffung der Sklaverei, erfolgte in einzelnen Schritten, und nicht in erster Stelle, um den Subjekten des Kampfes volle Menschenrechte, weitmöglichste Teilhabe und Mitbestimmung einzugestehen. Das kam meist in einzelnen Schritten, sukzessiv. Oder besser: Wir arbeiten immer noch daran – so wahnsinnig traurig es ist. Aber „alles auf einmal“ ist eine Illusion, die sich noch nie realisiert hat.

 

Das Gegenüber besser studieren

Demokratie braucht gutes Design. Kommunikationsstrategien für progressive Bewegungen, die Wandel bewirken wollen, sollten sich zuerst wohlwollend die Zielgruppe anschauen, die man umstimmen möchte, um Wandel zu erzeugen. Wie ticken die, was brauchen die, wie wollen die angesprochen werden? Die, die wir jetzt als erstes erreichen müssten, sind jene, die 2029 potentiell das erste Mal blau wählen könnten. Es ist komplett verständlich, wenn progressive NGOs, die mit ihren Spendengeldern von linken Förderinnen und Unterstützern leben können, Zusammenhaltkampagnen für die eigene Blase machen möchten. Sie sollten sich nur bitte nicht vorlügen, ihre Kampagnen würden mehr als diese Blase erreichen. Sie können sie höchstens an den Rändern leicht erweitern, aber dieses langsame Arbeiten ist nicht produktiv. Denn während wir in unseren kleinen Blasen miteinander reden, pumpen Länder wie Luxemburg und andere Autokratien sehr viel Geld in die AfD, die mit hochkompetenten Strategien den Rechtsruck vorantreiben. Wie klein unsere woke Welt tatsächlich ist, hat More in Common zunächst nur für Großbritannien untersucht. Aber wir sollten die Verbreitung unser eigener Werte in der Bevölkerung auch in Deutschland nicht überschätzen: Zu wie vielen Themen dies geschieht, hat More in Common nun eindrucksvoll aufgezeigt.

 

Zur Studie: https://www.moreincommon.org.uk/our-work/research/progressive-activists/