Was ist eine Genderforscherin?
24. August 2020
„Was, du bist Genderforscherin?“, entfährt es manchmal netten Nachbarn oder flüchtigen Bekannten, wenn sie mich und meine Berufsbeschreibung in einem TV- oder Online-Bericht zu Sexismus gesehen haben. „Du bist doch ganz nett. Wie geht das?“
Genderforscher*innen werden abwertend auch „Gender-Ideologen“ oder „Ideologie-Wächterinnen“ genannt und immer mit Feminismus in Verbindung gesetzt. Deshalb lasst uns das hier doch gleich zusammen beantworten: Was machen Genderforschende eigentlich und: Ist das, was wir machen, Ideologie?
Genderforschung ist kein geschützter Begriff. Ich kenne Marktforscher die sich auf das optimale Gendermarketing für Kinder spezialisiert haben – blaues Duschgel für ihn, pinkes mit Herzchen für sie, ihr kennt das. Die nennen sich auch manchmal „Genderforscher“ oder werden so bezeichnet. Ich habe nicht in den Gender Studien promoviert, sondern in den Kulturwissenschaften und den Begriff „Genderforscherin“ haben mir die Medien gegeben, nicht ich. Warum tun die so was, und ist das sinnvoll?
Pinkstinks wurde durch unsere Kampagnen schnell medial bekannt und ich als Gründerin werde seit 2012 ein paar Mal die Woche von der Presse zu Themen um Gender angefragt. Man meint, dass ich die Anfragen wissenschaftlich beantworten könne, weil ich a) einen Doktortitel trage und b) ein paar Jahre an verschiedenen Hochschulen im Fachbereich „Geschlechterforschung“ der Soziologie gelehrt habe. Also nennt man mich abwechselnd „Geschlechterforscherin“ oder „Genderforscherin“. Echt geforscht habe ich das letzte Mal 2003, zu meiner Doktorarbeit, aber worum es da ging, hat mich noch nie jemand gefragt. Auch nicht, was ich gelehrt habe. Es hat auch wenig mit dem zu tun, was ich so in der Regel im Fernsehen beantworte: Warum der Deutsche Werberat z.B. seinen Job nicht vernünftig macht oder warum sich Toilettenpapier mit rosa Einhörnern darauf so gut verkauft. Aber ein bisschen, und der Rest ist inzwischen jahrelange Erfahrung mit dem Thema Gender und Werbung.
Deshalb erzähle ich gerne hier, was ich nicht gelernt habe. Ich habe für mein Studium nie das Geschlecht eines Menschen genauer angeschaut, es statistisch ausgewertet, überhaupt naturwissenschaftlich gearbeitet oder mir Intersexualität medizinisch erklären lassen. Es gibt sehr wohl medizinische Geschlechterforschung und Genderforschung in der Biologie, ich kenne grandios kompetente Fachmenschen und vermittele die gerne. Ich aber kenne mich mit Gender soziologisch und kulturwissenschaftlich aus. In meinem gesamten kulturwissenschaftlichen Studium habe ich mich immer wieder auf Genderthemen gestürzt, weil die mich interessierten – nicht, weil die vorgegeben waren.
Ideologie oder Wissenschaft?
Es gibt eine stille Wertung in Deutschland: Medizin und Biologie, das ist so was wie Wahrheit, Soziologie oder Geisteswissenschaften, das ist Humbug. Dabei war einmal unser naturwissenschaftlicher Stand der, dass die Erde eine Scheibe ist und Frauen nicht wählen dürfen sollten, weil ihre Milz sie anfällig für Dummheit macht. Ohne Witz! Es gibt andererseits Zentren für Sozialforschung, in denen errechnet wurde, dass der „Corona-Lockdown“ insbesondere selbstständig arbeitende Mütter finanziell hart traf. Letzteres scheint uns sicher allen logisch. So viel Humbug ist in Soziologie also gar nicht, und Kulturwissenschaften ist primär Geschichte. Die kann man verdrehen, aber eben in alle Richtungen, das hebt das „Humbug“-Argument schon wieder auf.

Frauenbewegung in den 1970er Jahren: Gegen welche Rollenbilder haben sie protestiert? Quelle: Wikipedia Commons
Wissenschaft und Forschung hingegen haben immer mit den Ideologien derer zu tun, die sie beauftragen. Beispiel: Wieso gibt es keine Verhütungspille für Männer? Weil das medizinisch nicht geht? Nein, weil keine Lobby dahinter ist, und somit kein Forschungsgeld. „Die will niemand haben“, heißt es dazu gerne – ich denke, das sehen viele Frauen ganz anders. Oder: Wieso unterteilen wir Tiere in Familien und Gruppen? Weil Humboldt im 18. Jahrhundert monatelang mit Goethe über die „Verbindung in allen Dingen“ (Zitat aus Goethes „Faust“) philosophiert hat und ein System haben wollte, mit dem er diese Verbindung belegen kann. Jeder Forschungsansatz kommt nicht aus einem neutralen Nichts, sondern basiert in den Grundfesten unserer Kultur oder Religion.
Gehen wir also davon aus, dass es kein Humbug, sondern wissenschaftlich ist, sich die Rolle der Frau im Hollywoodfilm der 1940er Jahre anzuschauen und zu fragen, welchen Einfluss der zweite Weltkrieg darauf hatte. Dass es Sinn macht, zu untersuchen, warum Männer nicht früh genug zum Arzt gehen und deshalb ihr Krebs oft zu spät entdeckt wird. Wenn wir daraus die Meinung bilden, dass sich etwas ändern muss an der Gesellschaft, dass wir neue Frauen- und Männerrollenbilder brauchen, dann ist das feministisch. Die Basis dieser Meinungsbildung ist aber erst mal Wissenschaft.
Und meine Doktorarbeit?
Die habe ich über Judith Butler und Gilles Deleuze geschrieben, eine noch lebende US-amerikanische Philosophin und einen 1995 gestorbenen französischen Philosophen. Deren sehr ähnliche Vorstellungen von Geschlecht habe ich denen des Arztes und Psychoanalytikers Sigmund Freud gegenübergestellt, der vor knapp hundert Jahren wirkte und meinte, dass jeder Junge mit seiner Mutter schlafen will und alle Mädchen Penisneid haben. Man könnte sagen, der musste das ja wissen, der war Arzt. Ich habe sein „Wissen“ aber aus seiner Zeit heraus interpretiert, in der andere Vorstellung von Sexualität und Geschlechterrollen nicht denkbar und tabuisiert waren. Ich habe geschaut, wo Freuds Thesen sich noch in aktueller Medientheorie wiederfinden, diese kritisiert und angeboten, sie eher mit Deleuzes Vorstellung von Geschlecht zu ersetzen, weil selbst die hoch-moderne Judith Butler oft in Freudianische Fallen tappt. Dafür habe ich alle Bücher von Deleuze und alle die von Butler gelesen. Und von Butler sogar ihre Bücher über Antigone oder Hegel. Darüber habe ich auch an der Uni gelehrt. Über all das spreche ich nie in der Presse, das ist zu verkopft. Aber all das hat viel mit aggressiv geführten, aktuellen feministischen Debatten zu tun, darüber werde ich bald mehr schreiben. Und so, dass man das verstehen kann, das ist mir wichtig.
Ich schreibe keine Forschungsarbeiten mehr, aber ich lese aktuelle Studien, medizinische und soziologische, und verfolge die Medien engmaschig. Ich erforsche, wie Geschlecht aktuell beschrieben wird und von wem. Dass es an Geschlechtern nicht nur „Mann“ und „Frau“ gibt, ist heute „Wissen“. Wie sich das weiterentwickelt, behalte ich im Auge und kommentiere es – in meinem eigenen Blog, bei Pinkstinks oder in der Presse. Hose oder Rock herunterlassen muss niemand vor mir und Angst haben erst recht nicht. Denn gegen meine Argumente gibt es immer Gegenargumente: Je nachdem, was deine Agenda ist.
Herzlich!
Stevie Schmiedel
Über die Autorin
Stevie Schmiedel