Träume zählen mit Adichie

Ich wurde mal gefragt, bei welcher Person ich zittrige Knie bekommen würde, wenn ich ihre Hand schütteln dürfte. Würde mir Chimamanda Nkozi Adichie vorgestellt, bekäme ich Hitzewallungen und kein Wort heraus. Jeder ihrer Sätze ist ein Kunstwerk, ihre literarische Begabung einmalig, ihre Errungenschaften für den Feminismus – insbesondere für afrikanische und Schwarze Frauen – immens.

Über zehn Jahre mussten Adichie-Fans warten, bis wieder ein Buch von ihr erschien. „Half of the Yellow Sun“ war bisher mein Lieblingswerk, in dem sie der Welt erklärte, was für einen grotesk-brutalen Wahnsinn die Briten über Biafra ergossen hatten. Als nun endlich im März „Dream Count“ erschien, war ich enttäuscht: Die Rahmenhandlung, las ich, böte die Pandemie, mit der ich nun endlich abschließen wollte. Nochmal über Corona lesen? Nochmal die Ohnmacht, die dunklen Tage, die Sorge um meine monatelang in Screens starrenden Kinder und die tiefe Einsamkeit erleben?

Ich zögerte es also einige Monate hinaus, bis ich mir die Badekappe aufsetzte, die Nase zuhielt und mit einem mutigen Sprung zurück in die kalte Vergangenheit eintauchte. Eingelullt in Adichies warme, symphonische Sätze kann man nicht frieren. Aber mit ihr zusammen durch ihre Depressionen gehen, die man in allen ihrer vier afrikanischen, weiblichen Romanfiguren erahnen kann. Von ihren eigenen Depressionen in jener Zeit sagt sie, was auch zur Pandemie gut passt:

„It’s all about waiting and hoping. You are not in control of this thing.”

Depressionen, Trauer oder Reue kann jede erwischen. Wer kennt sie nicht, die unerfüllten Träume, Sehnsüchte und Momente des Scheiterns. Sich in diese schweren Gefühle und ihre Überwindung hineinzugeben wie in die Wehen einer Geburt kann man am besten mit Adichies sarkastischen Humor. So gewinnt man im Laufe des Buches mit Adichie zusammen an Stärke, die Enttäuschung und Trauer um verlorene Träume auszuhalten, um Entscheidungen, die man tätigte und bereute. Man gewinnt mit ihr an Wut, euphorischen Trotz und kühnen Argumenten gegen alle, die einen je kleinreden, abwerten, ausgrenzen oder ja, emotional vernichten wollten. Und vielleicht ist die größte Stärke des Buches das unerwartete Ende, das einen lehrt, Menschen ihr Gefühl von Kontrolle über eine Situation, ihr Gefühl von „Agency“, selbst bestimmen zu lassen.

Von einer jungen weißen Intellektuellen, mit der ich über das Buch sprach, hörte ich: „Ach, sei nicht enttäuscht, das Ende ist so was von schlecht! Sie hätte die Chance auf einen großen Roman gehabt und dann: Das!“ Ohne Spoilern zu wollen, sehe ich es als Adichies Stärke, weißen Lesern das Bild vom Schwarzen Opfer, das auf eine Weise gerettet wird, wie wir „Progressiven“ es gerne hätten, nicht zu gewähren. Wie ihre Figur Omelogor auf Seite 349 schreibt:

„America is so provincial, like an enormous giant of a man from a bush village who blunders about with supreme certainty, not knowing he is bush because he is blinded by his strength. If you’ve lived your whole life in a sensible part of the world – that is Africa or Asia or Latin America – be careful going to America for a master’s degree in the liberal arts. (…) As soon as I started my programme, so much I said was wrong but I did not know why it was wrong and they did not tell me because even my asking why was wrong.”

Mein Fazit:

Adichies Kampf für einen Feminismus, der Fragen aushält, Differenzen zulässt und nicht von einer einzigen Sicht vereinnahmt wird, macht sie für mich zu seiner modernsten, klügsten Fürsprecherin unserer Zeit. Ich habe „Dream Count“ verschlungen und war nicht ein einziges Mal traurig – auch, wenn es um so viel versäumte Zeit, versäumte Möglichkeiten ging. Im Gegenteil: Diese als Teil des Lebens und des Wachsens zu begreifen, wie es Adichie tut, ist unglaublich versöhnlich und teilweise sogar erheiternd. Meine absolute Leseempfehlung!